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Tertullian möge in Frieden ruhen

Würzburg (POW) Für eine Sexualmoral zwischen Repression und ungezügelter Freiheit hat sich die Moraltheologin Regina Ammicht Quinn ausgesprochen. Ein solches theologisch-ethisches Sprechen über Sexualität sei bescheidener und anspruchsvoller als die beiden anderen Alternativen, betonte die Tübinger Privatdozentin beim Symposium „Tabu Sexualität? Zwischen Last und Lust - Zwischen Tradition und Aufbruch“ der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) in Würzburg. Bescheidener sei es, weil es den Anspruch zurücknehme, ein komplexes und komplettes Regelsystem zu entwerfen, bei dessen Akzeptanz und Einhaltung das Leben eines Menschen ‚richtig’ wird. Zugleich werde es dadurch anspruchsvoller, dass der Zusammenhang zwischen moralischer und sexueller Identität immer neu hergestellt und erhalten werden müsse: „Keiner wird in den kompliziert vermischten Einzelheiten von Verlieben und Entlieben, Heirat und Scheidung, Ehepartnern und Lebensabschnittsgefährten uns genau sagen können, was wir tun sollen und, falls wir es nicht tun, wie groß unsere Sünde ist.“
 
Die repressiv, religiös fundierte Sexualmoral habe keine überzeugende biblische Basis, unterstrich Ammicht Quinn. Im Alten Testament bestehe die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen von Anfang an und sei keine Folge der Ursünde. Das Neue Testament gebe abgesehen von Jesu Wort zur Ehescheidung keine Weisung zur Sexualmoral. In der Bibel sei die Grundhaltung zur Körperlichkeit positiv, der Körper werde als Ort der Heilszusage Gottes verstanden. Der Kirchenvater Tertullian habe um 220 nach Christus die leibfeindliche Haltung der philosophischen Lehre der Stoa in das Christentum eingebracht. Rund 150 Jahre später habe Augustinus betont, dass sexuelles Begehren eine Strafe Gottes sei, die aus dem Sündenfall resultiere. Die Aktivierung der Sexualität sei nur dann sündenfrei, wenn sie der Zeugung von Nachkommen diene.
 
Die Bußbücher des Mittelalters gingen laut Ammicht Quinn sogar noch weiter: Sie nannten ausführliche Zeiten, in denen Eheleuten der Geschlechtsakt untersagt war, unter anderem je 40 Tage vor Weihnachten und Ostern, in allen Nächten von Samstag auf Sonntag sowie drei Tage vor Kommunionempfang. „Diese Regelungen sind der Versuch, die Bereiche der Religion und des Geschlechtlichen voneinander zu trennen – oder nur negativ miteinander zu verbinden.“ Die viel gescholtene Enzyklika „Humanae vitae“ enthalte neben der Ablehnung der künstlichen Empfängnisregelung einen immens wichtigen Fortschritt in der Ehetheologie: „Zum ersten Mal wird hier in einem kirchlichen Dokument ausdrücklich der Vorrang der gegenseitigen Liebe der Ehepartner vor dem einst absolut primären Ehezweck der Fortpflanzung genannt.“
 
Weil die einst von Geschlechterrollen und Familienbanden vorgegebene Stabilität der im Leben des Einzelnen heute nicht mehr gegeben sei, empfahl Ammicht Quinn eine Revision der überlieferten moraltheologischen Vorgaben, die für Sexualität Ganzheitlichkeit, Endgültigkeit und Fruchtbarkeit einforderten. Diese Grundkategorien sollten statt als Gesetze als symbolische Kategorien gedeutet werden. So solle Sexualität nicht ein abgespaltener Teil des Menschseins, des Rollenrepertoirs und der Spiritualität sein. Die Endgültigkeit könnte bedeuten, dass Sexualität nicht unter Vorbehalt gelebt werde. Fruchtbarkeit könnte in diesem Zusammenhang meinen, dass die Energie der Leibesbeziehung für die Welt fruchtbar gemacht werden kann und soll.
 
Die Zuhörer forderte die Moraltheologin auf, um sich herum, gerade auch in der Kirche, eine Welt zu schaffen, „in der den Menschen so viel Achtung, Bestätigung, Liebe zuteil wird, dass deren Mangel nicht in einer einsamen und gewaltsamen Sexualität ausagiert werden muss. So und nur so könnte ein Raum entstehen, in der Lust sich in Liebe und Liebe sich in Lust entfalten kann.“ Wenn die Grundstruktur des Christentums das Angenommensein des Menschen durch Gott sei, sei das Annehmen anderer die grundlegende christliche Haltung. Wo dies gelänge, könnten Sexualität und Religion wie auch Lust und Liebe sich nicht und nie ausschließen, sondern sich und auch die betroffenen Menschen gegenseitig erschließen. „Und Tertullian – er möge endlich und in Frieden ruhen.“
 
(0403/0119; Telefax voraus)